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Berlin – 8./9. Mai 2023

Kriegsgedenken ein Jahr
nach der Zeitenwende

In Berlin soll verantwortungsvolles Erinnern an das Kriegsende 1945 den Umgang mit dem 8./9. Mai prägen

Ein Jahr ist seit der Veröffentlichung des Manifests “Zeitenwende: Russlands Krieg gegen die Ukraine” vergangen.

Im Vorfeld des nahenden Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkriegs am 8./9. Mai 2023 erklären wir, die Beteiligten des Bündnisses “Gedenken gegen den Krieg”, dass das Gedenken an die Ereignisse, Verbrechen, Opfer und den heroischen Widerstand, die 80 Jahre zurückliegen, heute, während der andauernden militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine, nicht möglich ist, ohne die Parallelen zu den Verbrechen und Zerstörungen sowie dem Widerstand, die gerade jetzt in der Mitte Europas vor unseren Augen stattfinden, zu ziehen. Das gilt auch umgekehrt: Russlands großflächiger Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 steht in direktem Zusammenhang mit der Art und Weise, wie der Sieg über den Faschismus im Mai 1945 in der sowjetisch-russischen Geschichtsschreibung gedeutet wurde. Das Verschweigen von Kriegsverbrechen aufseiten der siegreichen Armee und der Militärführung der UdSSR, die bewusste Geringschätzung der Rolle der westlichen Alliierten und der Tatsache, dass die Rote (Sowjetische) Armee multinational war, die Verherrlichung militärischer Aktionen und die damit einhergehende Verdrängung der Fakten von Zerstörung, Menschenopfern und -leid sind nur einige Beispiele für die Instrumentalisierung der Geschichte zugunsten einer gegenüber der Außenwelt zunehmend aggressiven Ideologie. Im Ergebnis hat sich die Feier des siegreichen Kriegsendes in Russland in den Jahren vor dem umfassenden Einmarsch in die Ukraine durch den Siegeskult vollständig in einen Kult des Krieges verwandelt.

Vor 80 Jahren führte Nazi-Deutschland im Osten Europas einen Vernichtungskrieg. Seit der Annexion der Krim und dem Beginn des Donbass-Krieges in 2014 versucht Russland nicht nur, der Ukraine ihre Territorien wegzunehmen, sondern sie auch als unabhängigen Staat und das ukrainische Volk als Nation zu vernichten – eine Idee, die in den letzten Monaten von hochrangigen Regierungsvertretern Russlands offen geäußert wird. Mehr noch, das Putin-Regime hat nicht vor, bei der Ukraine haltzumachen. Sein Ziel ist es, die internationale, auf Rechtsstaatlichkeit basierende Weltordnung zu zerstören und durch eine zu ersetzen, in der das Recht des Stärkeren gilt. Dies darf ihm nicht gelingen.

Deswegen müssen die Bemühungen aller demokratischen Staaten heute darauf gerichtet sein, die Ukraine in ihrem Befreiungskampf mit allen verfügbaren legalen Mitteln, einschließlich schwerer Waffen, bis zur vollständigen Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität in den Grenzen von 1991 zu unterstützen. Es reicht in dieser Lage nicht mehr aus, den Krieg allgemein zu verurteilen und für den Frieden einzutreten, ohne konkret zu benennen, wie er erreicht werden könnte: Auf dem Spiel stehen die Freiheit und der gerechte, dauerhafte Frieden in ganz Europa.

Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen sind in Deutschland häufig zu hören. Das Problem ist jedoch, dass es sinnlos ist, sie an die deutsche oder ukrainische Regierung zu richten. Die Aggression geht von Moskau aus, und nur dort kann sie sofort beendet werden. Die Forderung, die Militärhilfe für die Ukraine einzustellen, bedeutet wiederum nichts anderes, als zuzulassen, dass die Ukraine, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, aufhören wird, als souveräner Staat zu existieren, und die ukrainische Bevölkerung noch mehr Gewalt und Terror ausgesetzt sein wird, als es in den besetzten Gebieten bereits der Fall ist.

Wir, die Mitglieder des Bündnisses, verurteilen solche Forderungen aufs Schärfste und sind der Überzeugung, dass es im Interesse der gesamteuropäischen Sicherheit liegt, die humanitäre, wirtschaftliche und militärische Unterstützung für die Ukraine noch mehr zu verstärken, da dies derzeit der einzige wirksame Weg ist, um der russischen Aggression zu widerstehen sowie den Aggressor zur Aufgabe seiner imperialen Bestrebungen zu zwingen.

Die Verantwortung, die für uns alle aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges erwächst, besteht nicht zuletzt darin, die Aufarbeitung der damaligen Verbrechen fortzusetzen und sie auf die neuen Verbrechen auszuweiten, die derzeit täglich entstehen. Sie müssen umfassend dokumentiert, juristisch, politisch und historisch bewertet und vor einem internationalen Tribunal geahndet werden. Denn Straflosigkeit von schwersten Menschen- und Völkerrechtsverletzungen trägt den Keim weiterer Kriege in sich. Die Herstellung von Gerechtigkeit ist somit ein unverzichtbarer Teil der künftigen Sicherheit und Friedensordnung in Europa.

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Am 8. und 9. Mai laden wir Organisationen, Vereine, Stiftungen, Gruppen, Kollektive, Künstler:innen, Journalist:innen, alle diejenigen, die die Leitlinien des Manifests 2022 und dieses Aufrufs unterstützen, ein, sich aktiv an den Aktionen zum Ende des Zweiten Weltkriegs an einem der Gedenkorte in Berlin zu beteiligen.

Organisationen

Austausch e.V., Bundesverband russischsprachiger Eltern e.V., Dekabristen e.V., Demokrati-JA, Memorial Deutschland e.V., Feminist Anti-War Resistance Berlin, FAR Oxford, Deutsche Perspektive e.V., Russian* Resistance Goettingen

Privatpersonen

Markus Meckel, Außenminister und MdB a.D., Dr. Richard Herzinger, Publizist, Dmitri Stratievski, Historiker, Politologe, Dr. Dieter Bingen, Politikwissenschaftler und Historiker, Stefan Hanisch, Jurist und Consultant, Kristina Smolijaninovaitė, Projektleiterin in der Geschichtsaufarbeitung, Dr. Tatiana Golova, Soziologin, Dr. Walter Frölich, Entwicklungsexperte, Michael Ohnesorge, Dozent in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, Anastasia Tikhomirova, Journalistin, Götz Höhne, Milen Radev, Katharina Kaden, Sabine Spicker, Dmitry Panfilov, Winfried Klinghammer, Verena Klinghammer, Thea Tobisch-Schuster, Heidi Bohley, Anna Hope, Alexei Dörre, Elke Braun, Valeriia Razheva, Elisabeth Wanjura, Vladislav Shishkin, Thomas Dancker, Frank Ebert, Martin Guse, Andreas Decker, Alfred Stiglbauer